Fachtagung "„Die Liebe ist ein seltsames Spiel …“

Behinderung im Islam: Bericht der Tagung der AG 2013

Behinderung im Islam aus theologischer und gesellschaftlicher Sicht
 
Zu diesem Thema lud die AG Religion und Ethik am Samstag, den 28.09.2013 zu einer Fortbildung nach Lauf, bei Nürnberg, ein. Als Referent konnte der islamische Religionspädagoge und wissenschaftliche Mitarbeiter des Interdisziplinären Zentrums für Islamische Religionslehre (IZIR), Herr Amin Rochdi, gewonnen werden. Herr Rochdi ist neben seiner Lehrtätigkeit an der Universität Nürnberg auch als Studienrat im Schuldienst einer Realschule tätig, wo er auch das Unterrichtsfach Islamischer Unterricht erteilt.
Mit 30 Teilnehmenden war die Veranstaltung ausgebucht, wobei auch Mitarbeitende aus anderen Förderschwerpunkten aus der Region großes Interesse zeigten.
 
Im Folgenden eine Zusammenfassung der Arbeitsergebnisse:
 
Den Einstieg bildete eine kurze Übung, die methodisch dem „Bibliolog“ entlehnt war:
Ausgehend von einem fiktiven Beispiel versetzten sich die Teilnehmer in die Situation muslimischer Eltern, die ein (neugeborenes) behindertes Kind bekommen haben. In der Identifikation mit den Eltern und Personen aus dem unmittelbaren Umfeld tauchten unter den Teilnehmenden Fragen nach dem "Warum gerade wir?", "Sind wir schuld?" und "Was will Gott von uns?" auf, existenzielle Fragen also, mit denen sich Eltern von Kindern mit Behinderung in der Realität konfrontiert sehen. Doch wie gehen muslimische Eltern konkret mit Fragen dieser Art um, welche Sichtweisen herrschen in der muslimischen Bevölkerung über das Thema "Behinderung" vor und welche Antworten bietet der Islam dazu?
Diesen Fragen galt es nach einer allgemeinen Einführung in den Islam sowie der Darstellung der aktuellen Situation muslimischer Menschen in der Bundesrepublik Deutschland zu klären.
 
1) Was ist Islam überhaupt?
Wir möchten hier nur ein Schlaglicht aus diesen beeindruckenden Ausführungen erwähnen: Herr Rochdi legte uns eine Sure vor und bat uns eigene Interpretationen zu finden. Dann schickte er uns in zwei Gruppen mit einer Predigt über diese Sure. Eine Gruppe war begeistert über die Offenheit der Auslegung, die andere Gruppe entsetzt! Wir hatten zu demselben Korantext zwei völlig entgegengesetzte Auslegungen bekommen.
Deutlicher konnte nicht vor Augen geführt werden, dass es „den“ Islam eben nicht gibt, sondern ein breites Spektrum, wie auch in der Christlichen Religion. Fundamentalismus und Fanatismus sind Gefahren, die in jeder Religion schlummern. Gerade vor diesem Hintergrund ist ein qualifizierter Islamunterricht, der einen offenen, kritischen und weltzugewandten Umgang mit der Religion fördert, in den deutschen Schulen von größter Bedeutung!
 
2) Behinderung in der islamischen Theologie:
Über das Thema "Behinderung" und "Krankheit" wird im Koran in nur wenigen Passagen berichtet. Die in diesem Zusammenhang auftauchenden Begriffe wie "taub", "stumm" oder "blind" nehmen dabei nicht Bezug auf konkrete Einschränkungen im physiologischen Sinne. Diese Beschreibungen wollten vielmehr allegorisch, d.h. im bildlichen Sinne, verstanden werden. Menschen, die die Wahrheit erkannt haben, und sie wegen ihres Egoismus leugnen oder Heuchler, die so tun, als ob sie beten, können als blind und taub bezeichnet werden.
 
Durchaus von Bedeutung für das Thema „Behinderung“ ist die Gottesvorstellung im Islam. Allah3  wird keineswegs als fern, fordernd und strafend vorgestellt. Der aussagekräftige Satz aus dem Koran: „Gott ist dir näher, als deine Halsschlagader.“ (Sure 50 Vers16), sei hier als Beleg angeführt! So sind auch die Gebote Allahs nicht dazu da, den Menschen das Leben schwerer zu machen, sondern das Gegenteil ist der Fall. Muhammad ist gekommen, um die Menschen glücklich zu machen.
In der Ausführung von Glaubenshandlungen berücksichtigt der Islam Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Beispielsweise sind chronisch kranke Menschen oder Schwangere vom Fasten im Fastenmonat Ramadan befreit. Alle Regeln und Gebote, so die Ausführungen des Islamexperten, sind nicht als eiserne Gesetzte, sondern vielmehr als 'Darf-Gebote' zu verstehen. Wenn es jemandem nicht möglich sei, eine bestimmte Pflicht auszuführen, so solle er dieses auch nicht tun. Allah, so Rochdi, will das Glück eines jeden Menschen.
Der Prophet Muhammad (oder Mohammed) hat sich zu Lebzeiten dafür eingesetzt, dass Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft integriert sind und es ihnen ermöglicht wird, am religiösen Leben teilzunehmen. Dies schließt auch den Besuch und die Teilhabe am Leben in der Moschee ein. Bislang verfügen jedoch die wenigsten islamischen Gotteshäuser über barrierefreie Zugänge für körperlich beeinträchtigte Menschen. Die Teilhabe am Glaubensleben, insbesondere dem Vollzug des rituellen Pflichtgebetes, ist vielen gläubigen Muslimen wichtig. Aufgrund von körperlichen Einschränkungen sind diese Gebetshaltungen wiederum oftmals nur bedingt möglich. Ebenfalls stellt das Reinheitsgebot im Islam eine große Hürde für Gläubige dar, wenn körperliche Beeinträchtigungen vorliegen. Wie die Ausführung des rituellen Pflichtgebets sind die Waschungen mit körperlichen Bewegungen verbunden. Das Gefühl, nicht 'rein' vor Allah zu treten, belastet Betroffene oft sehr und kann zu einem großen Problem werden. So fühlen sich beispielsweise Menschen mit Inkontinenzproblemen nicht rein vor Allah. In der Volksfrömmigkeit herrscht, wie wir es auch aus unseren Kirchen kennen, aber oft der Gedanke: Je mehr je besser! Gebotserfüllung wird zur Leistung – und dann kann eine Behinderung auch zu einer religiösen Anfechtung der Betroffenen führen.
 
Im Islam ist es eine theologische Aufgabe, sich um benachteiligte und ausgegrenzte Menschen zu kümmern! Dies kann z.B. in Form von Spenden (sakā), aber auch durch mildtätiges Handeln (sadaqa) erfolgen. Sadaqa kann aber auch das freundliche Lächeln sein! Sich gemeinsam um benachteiligte Menschen zu kümmern, dass sie am gesamten, also auch am religiösen Leben teilhaben können, kann man zusammenfassend als Aufforderung des Koran formulieren.
 
Die Frage nach dem „Warum“ führt in die Irre! Wesentlich produktiver ist es, Schicksalsschläge, wie eine Behinderung, als Aufgabe und Prüfung zu betrachten. Wie gelingt es uns Menschen mit dieser Aufgabe zurecht zu kommen. Dabei steht Allah stets hinter den Menschen und lässt sie nicht alleine. Viele Muslime sind glücklich, wenn ein islamischer Seelsorger sagt: „Hab Geduld, Gott ist bei dir!“
 
3) Behinderung in der Volksfrömmigkeit:
Innerhalb der muslimischen Gesellschaft gibt es unterschiedliche Auffassungen und Sichtweisen darüber, wie Krankheit und Behinderung erlebt werden. Dabei ist der Einfluss der Volksfrömmigkeit nicht zu unterschätzen. Diese Vorstellungen, so Rochdi, hätten aber oftmals nichts mit den Glaubensaussagen des Islam zu tun.
Je nach Region und überliefertem Denken wird beispielsweise die Geburt eines behinderten Kindes als "Strafe Gottes" für ein Vergehen in der Vergangenheit aufgefasst. Dieser Gedanke findet keinerlei Grund im Koran!
Auch die Vorstellung, dass ein böser Geist („Dschinn“) auf dem Kind liege, ist oft anzutreffen. Auch hier stellt der Koran zweifelsfrei fest, dass es keine Kraft gibt außer Allah. Alles ist ihm untergeordnet. Dennoch sind Aberglaube, Zauberzeichen und ähnliches immer wieder zu finden. Selbst die Vorstellung, dass eine Behinderung Folge eines Fluches sei, gibt es hier und dort. Dass auch hierfür keinerlei Belege im Koran zu finden sind, ist nicht verwunderlich.
 
Krankheit und Behinderung werden als vom Schicksal gegeben angesehen. Dabei wird eine Behinderung oftmals nur als vorübergehender Zustand betrachtet, der sich von Allah auch wieder aufheben lässt, z.B. durch Bittgebete. Vielen Eltern fällt es aus diesem Grunde schwer, die Behinderung ihres Kindes zu akzeptieren, da sie die Hoffnung auf eine Besserung bzw. gänzliche Aufhebung der Behinderung nicht aufgeben können. Grundsätzlich ist die Frage nach dem Schicksal („Ist eben Kismet!“) eine bedeutende Frage. Etwas als von Gott gewollt hin zu nehmen, kann sehr entlastend sein! Andererseits kann es zu einem Fatalismus führen, der eine mögliche Hilfe (Förderung) verhindert.
 
Solange sich eine Behinderung nur im schulischen Kontext vollzieht, fällt es vielen muslimischen Eltern schwer, die von außen angesprochene Problematik nachzuvollziehen (ein besonderes Problem bei „Lernbehinderung“). Zeigen sich hingegen die Einschränkungen in der Ausübung alltäglicher Tätigkeiten wie Einkaufen oder Einschenken von Tee etc. werden die Beeinträchtigungen auch durch den unmittelbaren Vergleich mit Nichtbetroffenen für die Eltern sichtbar.
 
Generell herrscht in vielen muslimischen Familien im Falle einer Behinderung die Angst vor Ausgrenzung und Stigmatisierung (s.o. Fluch, Besessenheit von Geistern). Hierbei spielt die Herkunft der Familie eine große Rolle (beispielsweise erwähnte Her Rochdi eine Episode aus Pakistan, wo Menschen auf ihre Makel hin reduziert und als "Blinde" und "Taube" angesprochen werden). Die Angst vor Ausgrenzung treibt betroffene Eltern oftmals dazu, mit ihren Kindern eine Vielzahl von Ärzten und so genannten Heilern aufzusuchen oder gar ihre Kinder von der Öffentlichkeit fernzuhalten.
 
4) Die Bedeutung der Familie und der Einfluss der Geschlechterrollen:
Bislang gibt es für Menschen mit Behinderung in islamisch geprägten Ländern nur wenige Hilfestellungen. Nicht zuletzt hängt dieses Manko damit zusammen, dass diese Länder weit „größere“ und „dringendere“ Schwierigkeiten zu bewältigen haben! Demzufolge werden Aufgaben wie die Pflege von behinderten Familienangehörigen innerhalb der Familie bewältigt. Da der Familie ein sehr hoher Wert innerhalb der muslimisch geprägten Gesellschaft zukommt, fällt es vielen Familien auch schwer, die Pflege und Betreuung ihres behinderten Kindes an externe Einrichtungen abzugeben. Folgen sind nicht selten eine Überbehütung! Auch die Erziehung in Internat ist oft kaum denkbar. Man denkt, dass man dem Kind die Sicherheit der Familie nicht mitgeben und ihm ausreichend helfen kann, was doch die Aufgabe der Familie ist. Nicht zu unterschätzen sind in diesem Zusammenhang auch Verlustängste!
Heiratsfähigkeit hat in den meisten Herkunftsländern eine außergewöhnliche Bedeutung. Menschen mit Behinderungen finden aber öfters keinen Partner, was als äußerst schlimm empfunden wird.
Die Situation für Jungen wird insofern noch verschärft, da dem Mann die Aufgabe zukommt, die Familie zu ernähren. Wenn dies aufgrund einer Behinderung nicht möglich scheint, wird es als höchst belastend für die gesamte Familie erlebt.
 
Diese, wohlgemerkt nicht theologischen, sondern kulturellen Aspekte, können es in der Tat für manche muslimische Familien schwer machen, eine Behinderung zu akzeptieren und damit angemessen umzugehen. „Nicht wahr haben wollen“, Heiler und Aberglauben, Verstecken und Rückzug können Folgen sein.
 
5) Ausblick:
Erschwernisse in der Zusammenarbeit mit muslimischen Menschen mit Behinderungen und deren Familien liegen nicht in der Religion begründet. Die anderen kulturellen Hintergründe stellen jedoch durchaus in Einzelfällen Probleme dar. Die erarbeiteten Informationen sind eine Hilfe, um Menschen muslimischen Glaubens angemessener begegnen zu können. Wichtig ist dabei, immer zu bedenken, dass die Denk- und Glaubenshaltungen sowie die kulturelle Prägung von Muslimen in Deutschland ausgesprochen unterschiedlich sind. Ein genaues Zuhören und Eingehen auf die einzelnen Personen ist daher von größter Bedeutung. Die Informationen des Seminars stellen eine Hilfe zum Verständnis und zur genaueren Wahrnehmung dar.
 
 
Weitere Informationen zu dem Thema:
- Rabeya Müller, Behinderung im Islam
http://www.zedis.uni-hamburg.de/wp-content/uploads/2007/07/mueller_behinderung_im_islam120707.pdf
- Manuel Sohn, Behinderungskonzepte bei Migranten aus islamischen Kulturkreisen und ihr Stellenwert für die pädagogische Arbeit an Sonderschulen
http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2004/1640/
- Disability and the Muslim Perspective: An Introduction for Rehabilitation and Health Care Provider
http://cirrie.buffalo.edu/culture/monographs/muslim.pdf
 
Anm.:
1) Der Biblolog ist eine Methode zur kreativen Erarbeitung von Texten. Entwickelte wurde sie für Texte der Bibel. Informationen finden sie unter www.bibliolog.de. Auf der angegebenen Homepage finden Sie auch weiterführende Literatur.
2) Zum Islamunterricht in Deutschland verweise ich einmal auf  www.izir.de, einer Seite  der Friedrich Alexander Universität Erlangen. Zum anderen möchte ich auf die ausgezeichneten Unterrichtsmaterialen für Islamunterricht hinweisen: Die Schulbücher (mit Lehrerhandbüchern und Begleitmaterialien) „Saphir“ für verschiedene Jahrgangsstufen (erschienen im Kösel Verlag).
3) Herr Rochdi stellt klar, dass die arabische Vokabel „Allah“ nichts Anderes bedeutet, als „der (eine) Gott“. Arabische Christen oder Juden verwenden diese Vokabel auch, wenn sie in ihrem Kontext von Gott sprechen.
 
Verfasser:
Elisabeth Hidding
AG Religionen und Ethik, Öffentlichkeitsarbeit
Karl-Tietenberg-Schule Rheinische Förderschule - Förderschwerpunkt Sehen
Paul-Spindler-Straße 13
40721 Hilden
elisabeth.hidding@uni-dortmund.de
 
Pfr. Ulrich Jung
AG Religionen und Ethik, AG Leiter
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